Wie versprochen gibt es heute eine etwas längere Leseprobe von "Schmetterlinge fliegen leise - Sommer in Colins Creek".
Um genau zu sein - das komplette erste Kapitel!
Und Anfang November könnt ihr dann weiterlesen. Denn dann erscheint das Buch über den OBO Verlag. 😍😊
Aber nun erstmal viel Spaß beim Lesen! 💗
Laufen lernen
Ich war ungefähr sieben Jahre, als
ich das erste Mal die große alte Turnhalle betrat, um zum Ballettunterricht zu
gehen.
Wenn ich sagen würde, dass ich mich an dieses erste Mal
erinnere, würde ich lügen, denn diesem einen Mal folgten unzählige weitere und
in meiner Erinnerung verschwimmen sie alle ineinander. Aber ich weiß, dass
dieses Gefühl, das ich beim ersten Betreten der Halle hatte, blieb. Diese
Ehrfurcht, diese Aufregung, diese Sehnsucht, obwohl ich nicht einmal wusste,
wonach.
Auch Jahre, Jahrzehnte später blieb es und ich wusste, es
würde mich bis an mein Lebensende begleiten. Diese alte Turnhalle veränderte
mein Leben. In ihr lernte ich laufen. Nein, natürlich nicht wirklich laufen, so
wie man es als Kleinkind lernt. Aber in ihr lernte ich, was für mich zum Laufen
wurde.
Ich lernte, zu tanzen.
In dieser alten Turnhalle fing es an.
Noch immer nahm ich diesen besonderen Duft nach Holz, Schweiß, Farbe und dem Staub wahr,
der im Gemäuer und unter den offenen Dachbalken hing.
Ein ganz eigenes Gefühl durchströmte mich, wenn ich die
schwere hölzerne Flügeltür aufschob. Ich sah die Schnitzereien längst
vergangener Zeiten, übergestrichen in verschiedenen Grautönen. Lack, der durch
die Jahre bröckelig geworden war, winzig kleine Wurmlöcher, Risse im trockenen
Holz.
Wenn ich die Tür öffnete, atmete ich tief ein. Jedes Mal.
Ich spürte, wie ich ankam. Es war ein „nach Hause kommen“.
Mein Blick fiel auf die Ballettstangen, die an der
gegenüberliegenden Wand angebracht waren und eine merkwürdige Aufregung
durchzog mich. Ich schaute hoch zu der schier unendlich weit entfernten
Hallendecke, sah die dicken Balken des Fachwerks.
Später, als ich größer war, lernte ich, dass diese alte
Turnhalle unter Denkmalschutz stand. Damals schon war sie weit über hundert
Jahre alt. Ein Jahrhundert. Ein Jahrhundert, das seine Spuren hinterlassen und
dem Gebäude einen ganz eigenen Charme gegeben hatte.
Ich erinnerte mich, wie stickig es in den Sommermonaten war.
Wie kalt, wenn der Winterwind durch die Ritzen im Gemäuer zog.
Viele Stunden habe ich dort verbracht und getanzt. Schweiß
lief in Strömen, während wir unsere Übungen an der Stange machten. Plié,
Relevé, Grand battement jeté …
Ich war sieben Jahre alt, als ich meine erste Ballettstunde
besuchte. Die ganzen französischen Begriffe klangen fremd in meinen Ohren –
allerdings musste ich zu meiner Schande gestehen, dass ich auch nach Jahrzehnten
des Balletts noch immer meine Probleme damit hatte. Es war wohl einfach nicht
meine Sprache. Aber die Sprache war mir immer unwichtig. Wichtig war nur der
Tanz. Das Gefühl, mich komplett mit Leib und Seele der Musik hinzugeben.
Später kamen diverse andere Arten des Tanzes hinzu. Von Hip
Hop bis Stepptanz, von Rock’n‘Roll bis Walzer – ich habe alles ausprobiert. Und
ich habe es geliebt! Ich wusste schnell, ohne das Tanzen konnte ich nicht
leben. Und mein Tanz lebte durch mich. Es klang vielleicht etwas melodramatisch,
aber das ist es, was ein Tänzer es empfindet.
Tanzen ist kein Sport – Tanzen ist ein Gefühl.
Die ersten Ballettstunden verbrachte ich an einem Platz in
der Mitte der Stange. Vor jeder Stunde stellte unser Ballettlehrer uns auf.
Ein, aus meinen kindlichen Augen betrachtet, alter Mann mit schlohweißen
Haaren, der sich kerzengerade hielt. Schweigend schob er uns auf unsere Plätze.
Schaute immer wieder nachdenklich die Reihe der Kinder entlang, ließ uns
tauschen, bis wir alle zu seiner Zufriedenheit standen. Ich blieb an meinem
Platz in der Mitte. Schnell begriff ich, warum das so war. Während der Übungen
wechselte die Blickrichtung. Vorne wurde zu hinten und hinten zu vorne. Er
hatte durch sein Verteilen der Plätze dafür gesorgt, Anfänger und Fortgeschrittene
zu mischen, damit man im Notfall immer jemanden hatte, an dem man sich
orientieren konnte. Schlau! Dennoch wollte auch ich einmal ganz vorne oder ganz
hinten stehen dürfen, dort wo die besten Ballettschüler ihren Platz hatten.
Es dauerte nicht lange und ich wanderte an dieser Stange.
Weg von der Mitte. Aus der Anfängerin, die ich einmal gewesen war, wurde eine
Fortgeschrittene. Es war nicht so, dass ich besonders hart dafür trainierte,
nein, wie der Zufall – oder meine Genetik – es so wollten, war ich einfach
überdurchschnittlich beweglich. Ein nicht zu verachtender Vorteil im Ballett,
obwohl es natürlich längst nicht alles bedeutete. Vielleicht hatte ich aber
auch einfach nur Talent.
Schnell wurde mir klar, was man als allererstes lernt. Es
war kein Plié, keine Pirouette. Nein, es war etwas ganz anderes.
Disziplin.
Alles stand und fiel mit der Disziplin.
Es war egal, ob die Muskeln schmerzten, ob die Luft vor
Anstrengung knapp wurde. Es war egal, ob ich mir Blasen an den Füßen getanzt
hatte - ich lernte, den Schmerz zu ignorieren. Ihn zu kontrollieren und diese
Kontrolle niemals aufzugeben.
Bis heute hallten die Worte meines Ballettlehrers in mein
Ohr:
„Wenn du noch sagen kannst, du kannst nicht mehr, dann
kannst du noch!“
Ich weiß nicht, wie oft ich diese Worte hörte, aber sie
haben sich eingebrannt und ich konnte sie nie vergessen.
Nach ungefähr zwei oder drei Jahren ging mein Ballettlehrer
in Rente und die Gruppe löste sich auf. Dennoch ist dieser Satz bis heute ganz
tief in mir verankert.
In meinem Herzen.
In meiner Seele.
„Wenn du noch sagen kannst, du kannst nicht mehr, dann
kannst du noch!“
Und nun?
Nun stand ich hier. Auf dem Fußweg gegenüber dieser alten
Turnhalle. Mittlerweile existierte sie nicht mehr. Ein Feuer hatte sie vor
anderthalb Jahren dem Erdboden gleichgemacht. Nur der leere, vom Unkraut
überwucherte Platz mit dem Bauzaun drum herum erinnerte noch daran, dass hier,
mitten in der Stadt einmal eine uralte Turnhalle gestanden hatte. Doch das
Gefühl war noch immer dasselbe. Als wäre diese Halle noch dort, auf der anderen
Straßenseite.
Die Halle, in der ich gelernt habe, zu laufen.
Und ich?
Ich dachte an die Worte meines Ballettlehrers, die mich so
geprägt hatten, und nach denen ich bis heute lebte. Diese Worte waren es, die
mich antrieben und die mich dorthin gebracht hatten, wo ich heute war.
Ich wusste nicht mehr, wie lange ich dort stand. Ich bekam
auch nicht mit, ob mich vorbeikommende Fußgänger merkwürdig anschauten. Mit
Sicherheit war es so. Ich musste ein komisches Bild abgeben, wie ich dort stand
und bewegungslos auf das leere Grundstück starrte. Erst ein leises Wimmern schaffte
es, mich in die Wirklichkeit zurückzuholen. Sofort schlich sich ein Lächeln auf
meine Lippen und ich senkte meinen Blick zu dem warmen Bündel vor meiner Brust.
Mein Baby rekelte sich im Halbschlaf in ihrem Tragetuch vor meinem Bauch.
Zärtlich streichelte ich Paulas Rücken und sofort beruhigte sie sich. Dennoch
wurde es Zeit zu gehen. Nicht mehr lang, dann würde sie erwachen und Hunger
bekommen.
~*~
Erschöpft ließ ich mich einige Stunden später auf mein Sofa
fallen, legte den Kopf gegen die Rücklehne und schloss die Augen. Mit
angehaltenem Atem lauschte ich, ob das Babyfon auf dem Couchtisch einen Laut
von sich gab. Erst nach ein paar Minuten atmete ich erleichtert auf. Meine
Kleine schien tatsächlich zu schlafen. Endlich!
Ich spürte, wie ich mich mehr und mehr entspannte, wie ich
schläfrig wurde, und riss schnell die Augen auf. Ich durfte noch nicht
einschlafen. Auch wenn ich so müde war, dass ich gerade nichts lieber täte.
Doch ich hatte noch mehr als genug zu tun. Mein Blick wanderte auf die Leuchtziffern
an meinem Blu-Ray-Player. 21:23. Seufzend schaute ich mich in meinem Wohnzimmer
um. Der Wäschekorb mit der gewaschenen Wäsche wartete seit drei Tagen auf mich,
mein Spüler in der Küche mit dem sauberen Geschirr war mittlerweile halbleer,
weil ich mich direkt daraus bediente, dafür stand die Ablage voll mit
schmutzigem. Wann meine Fenster das letzte Mal geputzt worden waren, konnte ich
nicht mal mehr dem Monat nach benennen. Ja, meine Wohnung versank im Chaos,
während ich versuchte, mein Baby und meinen Vollzeitjob unter einen Hut zu
bringen.
Apropos Job …
Ich sprang auf, als mir siedend heiß einfiel, dass morgen
eine wichtige Besprechung anstand. Ich sollte eine Präsentation neuer
Marketingstrategien für unser Kaufhaus halten, für die ich noch nichts
vorbereitet hatte. Schnell fuhr ich meinen Laptop hoch und suchte meine Notizen
heraus. Um das alles ins Reine zu bringen und eine vorzeigbare
PowerPoint-Präsentation zu erschaffen, würde ich vermutlich mindestens zwei
Stunden benötigen. Adios, Schlaf! Du
musst noch ein wenig warten.
Gerade als ich mich in meinen Laptop einloggte, klingelte
mein Telefon.
„Du hast auch echt einen siebten Sinn“, murmelte ich vor
mich hin, als ich den Namen auf dem Display erkannte.
„Hallo, Mutter. Was gibt’s?“, fragte ich, nachdem ich den
Anruf entgegengenommen hatte, obwohl ich
genau wusste, was sie wollte. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass sie
mich um diese späte Uhrzeit anrief und es ging immer um die Arbeit. Aber damit
musste man wohl leben, wenn die eigene Mutter gleichzeitig auch die Chefin war.
„Guten Abend, Nele. Ich wollte dich nur daran erinnern, dass
du morgen früh pünktlich bist. Um 8:30 Uhr trifft sich der Vorstand mit den
Abteilungsleitern. Nicht, dass du mal wieder zu spät kommst, weil irgendwas mit
dem Kind ist.“
Argh! Am liebsten
hätte ich laut aufgeschrien. „Das Kind“ war immerhin ihre Enkelin. Abgesehen
davon klang es so, als würde ich fast täglich zu spät bei der Arbeit
erscheinen, was definitiv nicht stimmte. Bloß ein einziges Mal in den letzten
Monaten war es vorgekommen und da hatte es nicht an meiner Tochter, sondern an
einem platten Autoreifen gelegen.
„Das Kind heißt Paula, Mutter. Und keine Sorge, ich werde
pünktlich sein!“
„Gut! Ich wollte nur sicher gehen. Vergiss deine
Präsentation nicht.“
Ohne ein weiteres Wort legte meine Mutter auf. Enttäuscht
seufzte ich und schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht mal gefragt, wie es der
Kleinen ging. So war es immer und eigentlich sollte ich mich nach über vier
Monaten daran gewöhnt haben. Trotzdem tat es mir jedes Mal weh.
Ich bemühte mich, den Schmerz beiseite zu schieben und mich
auf meine Arbeit zu konzentrieren, ich würde meine Mutter wohl nicht ändern
können, egal, wie sehr ich es mir wünschte. Und die Präsentation war jetzt
wichtiger, immerhin wollte ich heute noch irgendwann in mein Bett. Mein
Haushalt musste noch einen weiteren Tag warten. Morgen Abend war auch noch Zeit
und vielleicht würde Paula dann ja nicht zwei Stunden zum Einschlafen brauchen
wie heute. Die Hoffnung starb schließlich zuletzt.