Sonntag, 7. Oktober 2018

Schmetterlinge fliegen leise ...

Guten Morgen! 
Wie versprochen gibt es heute eine etwas längere Leseprobe von "Schmetterlinge fliegen leise - Sommer in Colins Creek". 
Um genau zu sein - das komplette erste Kapitel! 

Und Anfang November könnt ihr dann weiterlesen. Denn dann erscheint das Buch über den OBO Verlag. 😍😊

Aber nun erstmal viel Spaß beim Lesen! 💗



Laufen lernen

Ich war ungefähr sieben Jahre, als ich das erste Mal die große alte Turnhalle betrat, um zum Ballettunterricht zu gehen.
Wenn ich sagen würde, dass ich mich an dieses erste Mal erinnere, würde ich lügen, denn diesem einen Mal folgten unzählige weitere und in meiner Erinnerung verschwimmen sie alle ineinander. Aber ich weiß, dass dieses Gefühl, das ich beim ersten Betreten der Halle hatte, blieb. Diese Ehrfurcht, diese Aufregung, diese Sehnsucht, obwohl ich nicht einmal wusste, wonach.
Auch Jahre, Jahrzehnte später blieb es und ich wusste, es würde mich bis an mein Lebensende begleiten. Diese alte Turnhalle veränderte mein Leben. In ihr lernte ich laufen. Nein, natürlich nicht wirklich laufen, so wie man es als Kleinkind lernt. Aber in ihr lernte ich, was für mich zum Laufen wurde.
Ich lernte, zu tanzen. 
In dieser alten Turnhalle fing es an.
Noch immer nahm ich diesen besonderen Duft  nach Holz, Schweiß, Farbe und dem Staub wahr, der im Gemäuer und unter den offenen Dachbalken hing.
Ein ganz eigenes Gefühl durchströmte mich, wenn ich die schwere hölzerne Flügeltür aufschob. Ich sah die Schnitzereien längst vergangener Zeiten, übergestrichen in verschiedenen Grautönen. Lack, der durch die Jahre bröckelig geworden war, winzig kleine Wurmlöcher, Risse im trockenen Holz.
Wenn ich die Tür öffnete, atmete ich tief ein. Jedes Mal. Ich spürte, wie ich ankam. Es war ein „nach Hause kommen“.
Mein Blick fiel auf die Ballettstangen, die an der gegenüberliegenden Wand angebracht waren und eine merkwürdige Aufregung durchzog mich. Ich schaute hoch zu der schier unendlich weit entfernten Hallendecke, sah die dicken Balken des Fachwerks.
Später, als ich größer war, lernte ich, dass diese alte Turnhalle unter Denkmalschutz stand. Damals schon war sie weit über hundert Jahre alt. Ein Jahrhundert. Ein Jahrhundert, das seine Spuren hinterlassen und dem Gebäude einen ganz eigenen Charme gegeben hatte.
Ich erinnerte mich, wie stickig es in den Sommermonaten war. Wie kalt, wenn der Winterwind durch die Ritzen im Gemäuer zog.
Viele Stunden habe ich dort verbracht und getanzt. Schweiß lief in Strömen, während wir unsere Übungen an der Stange machten. Plié, Relevé, Grand battement jeté …
Ich war sieben Jahre alt, als ich meine erste Ballettstunde besuchte. Die ganzen französischen Begriffe klangen fremd in meinen Ohren – allerdings musste ich zu meiner Schande gestehen, dass ich auch nach Jahrzehnten des Balletts noch immer meine Probleme damit hatte. Es war wohl einfach nicht meine Sprache. Aber die Sprache war mir immer unwichtig. Wichtig war nur der Tanz. Das Gefühl, mich komplett mit Leib und Seele der Musik hinzugeben.
Später kamen diverse andere Arten des Tanzes hinzu. Von Hip Hop bis Stepptanz, von Rock’n‘Roll bis Walzer – ich habe alles ausprobiert. Und ich habe es geliebt! Ich wusste schnell, ohne das Tanzen konnte ich nicht leben. Und mein Tanz lebte durch mich. Es klang vielleicht etwas melodramatisch, aber das ist es, was ein Tänzer es empfindet.
Tanzen ist kein Sport – Tanzen ist ein Gefühl.

Die ersten Ballettstunden verbrachte ich an einem Platz in der Mitte der Stange. Vor jeder Stunde stellte unser Ballettlehrer uns auf. Ein, aus meinen kindlichen Augen betrachtet, alter Mann mit schlohweißen Haaren, der sich kerzengerade hielt. Schweigend schob er uns auf unsere Plätze. Schaute immer wieder nachdenklich die Reihe der Kinder entlang, ließ uns tauschen, bis wir alle zu seiner Zufriedenheit standen. Ich blieb an meinem Platz in der Mitte. Schnell begriff ich, warum das so war. Während der Übungen wechselte die Blickrichtung. Vorne wurde zu hinten und hinten zu vorne. Er hatte durch sein Verteilen der Plätze dafür gesorgt, Anfänger und Fortgeschrittene zu mischen, damit man im Notfall immer jemanden hatte, an dem man sich orientieren konnte. Schlau! Dennoch wollte auch ich einmal ganz vorne oder ganz hinten stehen dürfen, dort wo die besten Ballettschüler ihren Platz hatten.
Es dauerte nicht lange und ich wanderte an dieser Stange. Weg von der Mitte. Aus der Anfängerin, die ich einmal gewesen war, wurde eine Fortgeschrittene. Es war nicht so, dass ich besonders hart dafür trainierte, nein, wie der Zufall – oder meine Genetik – es so wollten, war ich einfach überdurchschnittlich beweglich. Ein nicht zu verachtender Vorteil im Ballett, obwohl es natürlich längst nicht alles bedeutete. Vielleicht hatte ich aber auch einfach nur Talent.
Schnell wurde mir klar, was man als allererstes lernt. Es war kein Plié, keine Pirouette. Nein, es war etwas ganz anderes.
Disziplin.
Alles stand und fiel mit der Disziplin.
Es war egal, ob die Muskeln schmerzten, ob die Luft vor Anstrengung knapp wurde. Es war egal, ob ich mir Blasen an den Füßen getanzt hatte - ich lernte, den Schmerz zu ignorieren. Ihn zu kontrollieren und diese Kontrolle niemals aufzugeben.
Bis heute hallten die Worte meines Ballettlehrers in mein Ohr:
„Wenn du noch sagen kannst, du kannst nicht mehr, dann kannst du noch!“
Ich weiß nicht, wie oft ich diese Worte hörte, aber sie haben sich eingebrannt und ich konnte sie nie vergessen.
Nach ungefähr zwei oder drei Jahren ging mein Ballettlehrer in Rente und die Gruppe löste sich auf. Dennoch ist dieser Satz bis heute ganz tief in mir verankert.
In meinem Herzen.
In meiner Seele.
„Wenn du noch sagen kannst, du kannst nicht mehr, dann kannst du noch!“
Und nun?
Nun stand ich hier. Auf dem Fußweg gegenüber dieser alten Turnhalle. Mittlerweile existierte sie nicht mehr. Ein Feuer hatte sie vor anderthalb Jahren dem Erdboden gleichgemacht. Nur der leere, vom Unkraut überwucherte Platz mit dem Bauzaun drum herum erinnerte noch daran, dass hier, mitten in der Stadt einmal eine uralte Turnhalle gestanden hatte. Doch das Gefühl war noch immer dasselbe. Als wäre diese Halle noch dort, auf der anderen Straßenseite.
Die Halle, in der ich gelernt habe, zu laufen.
Und ich?
Ich dachte an die Worte meines Ballettlehrers, die mich so geprägt hatten, und nach denen ich bis heute lebte. Diese Worte waren es, die mich antrieben und die mich dorthin gebracht hatten, wo ich heute war.

Ich wusste nicht mehr, wie lange ich dort stand. Ich bekam auch nicht mit, ob mich vorbeikommende Fußgänger merkwürdig anschauten. Mit Sicherheit war es so. Ich musste ein komisches Bild abgeben, wie ich dort stand und bewegungslos auf das leere Grundstück starrte. Erst ein leises Wimmern schaffte es, mich in die Wirklichkeit zurückzuholen. Sofort schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen und ich senkte meinen Blick zu dem warmen Bündel vor meiner Brust. Mein Baby rekelte sich im Halbschlaf in ihrem Tragetuch vor meinem Bauch. Zärtlich streichelte ich Paulas Rücken und sofort beruhigte sie sich. Dennoch wurde es Zeit zu gehen. Nicht mehr lang, dann würde sie erwachen und Hunger bekommen.

~*~

Erschöpft ließ ich mich einige Stunden später auf mein Sofa fallen, legte den Kopf gegen die Rücklehne und schloss die Augen. Mit angehaltenem Atem lauschte ich, ob das Babyfon auf dem Couchtisch einen Laut von sich gab. Erst nach ein paar Minuten atmete ich erleichtert auf. Meine Kleine schien tatsächlich zu schlafen. Endlich!
Ich spürte, wie ich mich mehr und mehr entspannte, wie ich schläfrig wurde, und riss schnell die Augen auf. Ich durfte noch nicht einschlafen. Auch wenn ich so müde war, dass ich gerade nichts lieber täte. Doch ich hatte noch mehr als genug zu tun. Mein Blick wanderte auf die Leuchtziffern an meinem Blu-Ray-Player. 21:23. Seufzend schaute ich mich in meinem Wohnzimmer um. Der Wäschekorb mit der gewaschenen Wäsche wartete seit drei Tagen auf mich, mein Spüler in der Küche mit dem sauberen Geschirr war mittlerweile halbleer, weil ich mich direkt daraus bediente, dafür stand die Ablage voll mit schmutzigem. Wann meine Fenster das letzte Mal geputzt worden waren, konnte ich nicht mal mehr dem Monat nach benennen. Ja, meine Wohnung versank im Chaos, während ich versuchte, mein Baby und meinen Vollzeitjob unter einen Hut zu bringen.
Apropos Job …
Ich sprang auf, als mir siedend heiß einfiel, dass morgen eine wichtige Besprechung anstand. Ich sollte eine Präsentation neuer Marketingstrategien für unser Kaufhaus halten, für die ich noch nichts vorbereitet hatte. Schnell fuhr ich meinen Laptop hoch und suchte meine Notizen heraus. Um das alles ins Reine zu bringen und eine vorzeigbare PowerPoint-Präsentation zu erschaffen, würde ich vermutlich mindestens zwei Stunden benötigen. Adios, Schlaf! Du musst noch ein wenig warten.
Gerade als ich mich in meinen Laptop einloggte, klingelte mein Telefon.
„Du hast auch echt einen siebten Sinn“, murmelte ich vor mich hin, als ich den Namen auf dem Display erkannte.
„Hallo, Mutter. Was gibt’s?“, fragte ich, nachdem ich den Anruf entgegengenommen hatte,  obwohl ich genau wusste, was sie wollte. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass sie mich um diese späte Uhrzeit anrief und es ging immer um die Arbeit. Aber damit musste man wohl leben, wenn die eigene Mutter gleichzeitig auch die Chefin war.
„Guten Abend, Nele. Ich wollte dich nur daran erinnern, dass du morgen früh pünktlich bist. Um 8:30 Uhr trifft sich der Vorstand mit den Abteilungsleitern. Nicht, dass du mal wieder zu spät kommst, weil irgendwas mit dem Kind ist.“
Argh! Am liebsten hätte ich laut aufgeschrien. „Das Kind“ war immerhin ihre Enkelin. Abgesehen davon klang es so, als würde ich fast täglich zu spät bei der Arbeit erscheinen, was definitiv nicht stimmte. Bloß ein einziges Mal in den letzten Monaten war es vorgekommen und da hatte es nicht an meiner Tochter, sondern an einem platten Autoreifen gelegen.
„Das Kind heißt Paula, Mutter. Und keine Sorge, ich werde pünktlich sein!“
„Gut! Ich wollte nur sicher gehen. Vergiss deine Präsentation nicht.“
Ohne ein weiteres Wort legte meine Mutter auf. Enttäuscht seufzte ich und schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht mal gefragt, wie es der Kleinen ging. So war es immer und eigentlich sollte ich mich nach über vier Monaten daran gewöhnt haben. Trotzdem tat es mir jedes Mal weh.
Ich bemühte mich, den Schmerz beiseite zu schieben und mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, ich würde meine Mutter wohl nicht ändern können, egal, wie sehr ich es mir wünschte. Und die Präsentation war jetzt wichtiger, immerhin wollte ich heute noch irgendwann in mein Bett. Mein Haushalt musste noch einen weiteren Tag warten. Morgen Abend war auch noch Zeit und vielleicht würde Paula dann ja nicht zwei Stunden zum Einschlafen brauchen wie heute. Die Hoffnung starb schließlich zuletzt.