Donnerstag, 7. September 2017

Wie ich lernte zu laufen.

Hey, ihr Lieben! 

Seit Wochen habe ich die Finger von der Tastatur gelassen. Zumindest, was neue Geschichten angeht. Doch das hier ... Das wollte raus. ;-) 

Keine Ahnung, was daraus wird ... Vielleicht eine neue Geschichte. Vielleicht nur ein Blogeintrag. Vielleicht ein neuer Roman mit Ben. 
Ich weiß es nicht ... Aber ich möchte es euch zeigen. Frisch getippt - wer Fehler findet, darf sie behalten und das (c) liegt natürlich bei mir ... ;-) 

Habt einen tollen Abend und viel Spaß! <3 



Ich war ungefähr sieben Jahre, als ich das erste Mal die große alte Turnhalle betrat, um zum Ballettunterricht zu gehen.
Wenn ich sagen würde, dass ich mich an dieses erste Mal erinnere, würde ich lügen, denn diesem einen Mal folgten unzählige weitere und in meiner Erinnerung verschwimmen sie alle ineinander. Aber ich weiß, dass dieses Gefühl, dass ich beim ersten Betreten der Halle hatte, blieb. Diese Ehrfurcht, diese Aufregung, diese Sehnsucht, obwohl ich nicht einmal wusste, wonach.
Auch Jahre, Jahrzehnte später blieb es und ich weiß, es wird mich mein Leben lang begleiten. Diese alte Turnhalle veränderte mein Leben. In ihr lernte ich laufen. Nein, natürlich nicht wirklich laufen, so wie man es als Kleinkind lernt. Aber in ihr lernte ich, was für mich zum Laufen wurde.
Ich lernte zu tanzen.  
In dieser alten Turnhalle fing es an.
Noch immer nehme ich diesen ganz eigenen Duft wahr nach Holz, Schweiß, Farbe und dem Staub, der im Gemäuer und den offenen Dachbalken hing.
Ein ganz eigenes Gefühl durchströmte mich, wenn ich die schwere hölzerne Flügeltür aufschob. Ich sah die Schnitzereien längst vergangener Zeiten, übergestrichen in verschiedenen Grautönen. Lack, der durch die Jahre bröckelig geworden war, winzig kleine Wurmlöcher, Risse im trockenen Holz.
Wenn ich die Tür aufschob, atmete ich tief ein. Jedes Mal. Ich spürte, wie ich ankam.
Mein Blick fiel auf die Ballettstangen, die an der gegenüberliegenden Wand angebracht waren und eine merkwürdige Aufregung durchzog mich. Ich schaute hoch zu der unendlich weit entfernten Hallendecke, sah die dicken Balken des Fachwerks.
Später, als ich größer war, lernte ich, dass diese alte Turnhalle unter Denkmalschutz stand. Damals schon war sie weit über hundert Jahre alt. Ein Jahrhundert. Ein Jahrhundert, das seine Spuren hinterlassen und dem Gebäude einen ganz eigenen Charme gegeben hat.
Ich erinnere mich, wie stickig es in den Sommermonaten war. Wie kalt, wenn der Winterwind durch die Ritzen im Gemäuer zog.
Viele Stunden habe ich dort verbracht und getanzt. Schweiß lief in Strömen, während wir unsere Übungen an der Stange machten. Plié, Relevé, Grand battement jeté …
Ich war sieben Jahre alt, als ich meine erste Ballettstunde besuchte. Die ganzen französischen Begriffe klangen fremd in meinen Ohren – allerdings muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich auch nach Jahrzehnten des Balletts noch immer meine Probleme damit hatte. Es ist wohl einfach nicht meine Sprache. Aber die Sprache war mir immer unwichtig. Wichtig war nur der Tanz. Das Gefühl, mich komplett mit Leib und Seele der Musik hinzugeben.
Später kamen diverse andere Arten des Tanzes hinzu. Von Hip Hop bis Stepptanz, von Rock`n`Roll bis Walzer – ich habe alles ausprobiert. Und ich habe es geliebt! Ich wusste schnell, ohne das Tanzen kann ich nicht leben. Und mein Tanz lebt durch mich. Ja, ich merke selbst, wie melodramatisch das klingt, aber das ist es, wie ein Tänzer es empfindet. Tanzen ist kein Sport – Tanzen ist ein Gefühl.

Die ersten Ballettstunden verbrachte ich an einem Platz in der Mitte der Stange. Vor jeder Stunde stellte unser Ballettlehrer uns auf. Ein, aus meinen kindlichen Augen betrachtet, alter Mann, mit schlohweißen Haaren, der sich immer kerzengerade hielt. Schweigend schob er uns auf unsere Plätze. Schaute immer wieder nachdenklich die Reihe der Kinder entlang, ließ uns tauschen, bis wir alle zu seiner Zufriedenheit standen. Ich blieb an meinem Platz in der Mitte. Schnell begriff ich, warum das so war. Während der Übungen wechselt die Blickrichtung. Vorne wird zu hinten und hinten zu vorne. Er hat durch sein Verteilen der Plätze dafür gesorgt, Anfänger und Fortgeschrittene zu mischen, damit man im Notfall immer jemanden hatte, an dem man sich orientieren konnte. Schlau! Dennoch wollte auch ich einmal ganz vorn oder ganz hinten stehen dürfen.
Es dauerte nicht lange und ich wanderte an dieser Stange. Weg von der Mitte. Aus der Anfängerin, die ich einmal gewesen war, wurde eine Fortgeschrittene. Es war nicht so, dass ich besonders hart dafür trainierte, nein, wie der Zufall – oder meine Genetik – es so wollten, war ich einfach überdurchschnittlich beweglich. Ein nicht zu verachtender Vorteil im Ballett, obwohl es natürlich längst nicht alles bedeutete. Vielleicht hatte ich aber auch einfach ein wenig Talent.
Schnell wurde mir klar, was man als allererstes lernt. Es war kein Plié, keine Pirouette. Nein, es war etwas ganz anderes.
Disziplin.
Alles steht und fällt mit der Disziplin.
Es war egal, ob die Muskeln schmerzten, ob die Luft vor Anstrengung knapp wurde, es war egal, ob ich mir Blasen an den Füßen getanzt hatte. Ich lernte, den Schmerz zu ignorieren. Ihn zu kontrollieren und diese Kontrolle niemals aufzugeben.
Bis heute hallen die Worte meines Ballettlehrers in mein Ohr:

Solange du noch sagen kannst, du kannst nicht mehr, kannst du noch!

Ich weiß nicht, wie oft ich diese Worte im Laufe der Jahre hörte – es kann nicht allzu oft gewesen sein, denn nach ungefähr zwei oder drei Jahren ging mein Ballettlehrer in Rente und die Gruppe löste sich auf. Dennoch ist dieser Satz bis heute ganz tief in mir verankert.
In meinem Herzen.
In meiner Seele.

Solange du noch sagen kannst, du kannst nicht mehr, kannst du noch!

Und nun?

Nun stehe ich hier. Auf dem Fußweg gegenüber dieser alten Turnhalle. Mittlerweile existiert sie nicht mehr. Ein Feuer hat sie vor anderthalb Jahren dem Erdboden gleichgemacht. Nur der leere, vom Unkraut überwucherte Platz mit dem Bauzaun drum herum erinnert noch daran, dass hier, mitten in der Stadt einmal eine uralte Turnhalle gestanden hat. Doch das Gefühl ist noch immer dasselbe. Als wäre diese Halle noch dort, auf der anderen Straßenseite.
Die Halle, in der ich gelernt habe zu laufen.

Und ich?

Ich denke an die Worte meines Ballettlehrers, die mich so geprägt haben, und nach denen ich bis heute lebe.