Samstag, 19. August 2017

Ich bin ...

Freitag, den 12.05.2017

Es war in den frühen Morgenstunden, die Sonne versteckte sich noch hinter dem Horizont, als ein Klopfen an der Tür mich aus dem Schlaf riss. Müde rollte ich mich aus dem Bett und griff nach einem warmen Sweatshirt. Mir war klar, was dieses Klopfen zu bedeuten hatte. Auf dem Weg zur Tür schlüpfte ich in das Shirt, dann öffnete ich.
In der Dunkelheit erkannte ich eine junge Frau, die mich schweigend anschaute. Über der Schulter trug sie nur eine kleine Tasche.
„Komm rein!“, bat ich sie und schob die Tür einladend ein Stück weiter auf. Noch immer wortlos trat sie ein.
„Wie heißt du?“, fragte ich freundlich, während ich die Tür hinter ihr schloss. Sie lächelte mich an. „Sienna. Ich bin hier um …“ Sie brach ab und musterte mich kurz. „Nein, ich denke, du weißt, warum ich hier bin.“
Ich nickte. „Ja, das weiß ich. Komm mit, ich zeige dir dein Zimmer.“ Ich ging die Treppe hinauf bis ins Dachgeschoss und Sienna folgte mir.
Diese Art von Besuch war mir nicht unbekannt. Bereits seit meiner Kindheit kannte ich es nicht anders.
Sie kamen und sie bleiben. Eine gewisse Zeit. Dann verabschiedeten sie sich – doch niemals gingen sie ganz. Ein Stück von ihnen blieb in mir – und ein Stück von mir gab ich ihnen mit.

Ein wenig zögernd trat Sienna in das Zimmer unter dem Dach ein, schaute sich um, und ich tat es ihr gleich.
Auf den ersten Blick wirkte es trist und karg. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl. Keine Gardinen vor dem Fenster, kein Bild an der Wand, kein Teppich auf dem Holzboden. Doch ich wusste, es machte nichts. Sienna würde diesen Raum in den nächsten Wochen mit Leben füllen. So war es immer.
Und so würde es auch diesmal sein.
In den nächsten Wochen begleitete Sienna mich. Sie wich mit nicht von der Seite, egal, was ich tat. Wenn ich aß, saß sie auf dem freien Stuhl am Esstisch. Sie begleitete mich, wenn ich die Kinder zum Sport fuhr. Auf der Hunderunde mit der Wauz, ging sie neben mir. Auf der Abschlussfeier meines Sohnes war sie dabei. Ja, selbst wenn ich schlief, hockte sie auf dem Stuhl neben meinem Bett. Sogar als ich beim Zahnarzt war, hockte sie neben dem Behandlungsstuhl.
Wir redeten viel. 
Nein, Sienna redete. 
Ich schwieg, hörte zu, was sie mir zu erzählen hatte.

Manchmal weckte sie mich mitten in der Nacht oder ließ mich abends nicht einschlafen. 
Manchmal sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Sie war nicht zu stoppen und sprach so schnell, dass ich kaum hinterher kam.
Manchmal schwieg sie aber auch, starrte stumm vor sich hin und ich musste ihr jedes Wort aus der Nase ziehen. 
Wir lachten zusammen, bis uns die Bäuche weh taten. Ich weinte mit ihr, als sie mich ihre tiefste Verzweiflung spüren ließ. Wir waren die besten Freundinnen, sie vertraute mir blind und zeigte sich mir ohne Mauern, ohne Maske. Jede Emotion, die sie beim Erzählen durchlebte, spürte ich ebenso stark.

Ab und zu ließ sie mich allein, doch es waren höchstens ein paar Stunden, in denen sie nicht an meiner Seite war. Dann kehrte sie zurück und erzählte weiter. Sie gab das Tempo vor und ich folgte. Ließ ihr den Raum und die Zeit, die sie brauchte.

Jedes Mal, wenn ich in das kleine Zimmer im Dachgeschoss kam, hatte es sich ein wenig verändert. Stück für Stück. Jeden Tag ein wenig mehr. Erst war es die bunte Bettwäsche und die Tagesdecke auf dem Bett. Am nächsten Tag hingen Gardinen vor den Fenstern. Dann stand ein großer Strauß selbst gepflückter Wildblumen auf dem kargen Tisch. Eine Tischdecke und ein kuschliger Läufer folgten, ebenso wie hübsche Kerzenständer und kleine Lampen, die den Raum in ein diffuses Licht tauchten.
Dieses Zimmer unter dem Dach wurde mit jedem Tag ein Stück mehr zu Siennas Zimmer. Es zeigte, wer sie war, was sie liebte und was sie brauchte. Es waren Kleinigkeiten und doch veränderte sich der Raum. Aus dem tristen Dachgeschoss wurde ein gemütliches Zuhause. Es gefiel mir, dass Sienna sich bei mir so wohlfühlte, doch es machte mich auch ein wenig traurig. Ich wusste, irgendwann würde unsere Zeit kommen. Unsere Zeit des Abschiednehmens.

Irgendwann an einem Tag Ende Juni war es soweit. In den letzten Tagen hatten wir fast ununterbrochen zusammengesessen. Ich wusste, wir gingen auf das Ende zu, während Sienna weiter erzählte. Wie ein Schatten hing dieses Wissen über uns. Ich war froh und glücklich, dass wir gemeinsam diesen Weg gegangen waren, dass wir diese Zeit zusammen gehabt hatten, doch ein kleiner, feiner Schmerz stahl sich zwischendurch auch in mein Herz. Es fiel mir schwer, sie loszulassen. Doch ich musste es. Es war soweit. Jetzt, wo ich alles wusste. Unsere Zeit war abgelaufen. Sienna hatte mir ihre Geschichte erzählt. Unser Ende war gekommen. Meine Freundin würde mich verlassen.


Nun ist das Zimmer unter dem Dach wieder verwaist. Die Blumen, die Gardinen, der Läufer, alles, was Sienna dem Raum im Laufe der Wochen gegeben hat, ist wieder verschwunden. 
Langsam gehe ich durch das Dachzimmer, nehme noch einen Hauch ihres Duftes wahr. Bald wird auch dieser Hauch verschwunden sein, ich weiß es. So ist es immer.
Aber ich weiß auch, irgendwann wird es wieder an meiner Tür klopfen. Eine junge Frau wird davor stehen, bereit, mir ihre Geschichte zu erzählen.
Sie wird bei mir einziehen und ein paar Wochen oder Monate bleiben. Sie wird mein Leben bereichern und ich werde mit ihr lachen und weinen. Sie wird meine Freundin werden.
Irgendwann wird auch sie mich wieder verlassen und auch von ihr wird ein Teil immer bei mir bleiben. Ich werde sie niemals vergessen, ich werde keine von ihnen jemals vergessen.

Wer ich bin, dass all diese Menschen zu Gast bei mir sind? Dass sie mir ihre Geschichten erzählen?

Ich bin niemand besonders. 
Ich bin nur eine Autorin.

 ~*~ 



Hat dir diese kleine Geschichte gefallen? 
Möchtest du nun lesen, was Sienna mir in den Wochen, in denen sie mich Tag und Nacht begleitete, alles erzählt hat? 

Dann schau doch mal hier: