Freitag, 23. März 2018

Perfekt unperfekt

Den Blick in den Himmel gerichtet, sitze ich hier auf der ausladenden Wurzel der alten Buche und starre hinauf in den nachtschwarzen Himmel. Ein paar Sterne entdecke ich und den Neumond, der ein schwaches Licht über den Park wirft. 
Die Gedanken fliegen durch meinen Kopf und es fällt mir schwer, einen von ihnen festzuhalten. Mein Herz liegt bleiern in meiner Brust und ein Kloß in meinem Hals erschwert mir das Atmen.
Ich hasse Abschiede! 
Schon als Kind habe ich geheult wie ein Schlosshund, wenn ich mich für länger als ein paar Tage von jemandem verabschieden musste. Bereits damals wollte ich die Menschen, für die ich etwas empfand, festhalten und ihn nicht mehr aus meinem Leben lassen. 

Doch die Erfahrung hat mich im Laufe der Jahren anderes gelehrt.

So viele Menschen gehen und so wenige bleiben ... 

Die Anzahl derer, die irgendwann beschließen, nicht mehr zurückzukehren, ist größer, als die derer, die dein Leben nicht wieder verlassen wollen. 

Diese Menschen, sie sind weitergezogen. 
Sie gehen ihren Weg, leben ihr Leben und ich ... Ich sitze noch immer hier ... an der gleichen Stelle ... auf der Baumwurzel der alten Buche und starre hinauf in den dunklen Nachthimmel. 

Nachdenklich lasse ich meinen Blick schweifen, sehe die Schemen und Schatten und stelle mir vor, wie der kleine Park am Tage aussieht. Innerhalb der letzten Wochen ist er zu meinem Rückzugsort geworden. 
Hier kann ich zu mir finden, wenn ich mich mal wieder aus den Augen verloren habe. Hier kann ich mich spüren und meine Gefühle herauslassen. Hier wird mich niemand entdecken. Hier muss ich keine Fragen beantworten, keine Erwartungen erfüllen. Hier kann ich wieder klar denken und mein inneres Gleichgewicht zurückerlangen. 


Hier kann ich SEIN. 

Erneut lehne ich den Kopf gegen den Stamm der alten Buche. Es beruhigt mich, unter diesem mächtigen Baum zu sitzen. Er strahlt so viel Ruhe aus, so viel Stärke. Ich fühle mich geborgen und beschützt.

Endlich schaffe ich es, über die Fragen nachzudenken, die mir schon seit einigen Tagen durch den Kopf schweben. 


Warum sollte ich noch zulassen, dass jemand mein Herz berührt, wenn er doch sowieso wieder verschwinden wird? 

Wieso sollte ich jemanden in meine Nähe lassen, wenn er doch sowieso irgendwann geht? 
Sollte ich nicht viel lieber auf mich achten, schauen, dass es mir gut geht ... mich schützen? Mein Herz ... 

Sollte ich nicht einfach die sein, bei der die Leute bleiben wollen? 

Ihnen nur meine schönen Seiten zeigen. So wie ich sein kann ... Fröhlich, lustig, aufgeschlossen, freundlich ... Reicht das nicht? 

Muss ich jemandem zeigen, wie es wirklich in mir aussieht? 

Muss ich jemandem verraten, was ich mir tatsächlich wünsche? 

Muss ich jemanden so dicht an mich heranlassen, dass er alles von mir sehen kann? 
Nicht nur die schönen Seiten, sondern auch die Narben und die Verletzungen.

Auf einmal ist sie da ... Die Antwort, um die ich schon seit Tagen herumschleiche. In diesem Moment bin ich mir sicher, es kann nur eine Antwort für mich geben. 


Ja! 

Denn sonst wäre ich nicht ICH. 
Die Narben, die Verletzungen, all die unschönen Seiten gehören ebenso zu mir wie meine Sommersprossen und meine blauen Augen. Sie haben mich geprägt, haben mich wachsen lassen und haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. 

So wie ich bin, bin ich perfekt. 


Perfekt unperfekt!

Genau wie das Leben ... Das Leben ist nicht immer nur schön und gut. Gerade das habe ich in den letzten Monaten sehr deutlich zu spüren bekommen. 

Ich musste erst lernen, dass der Regenbogen für mich noch ein paar mehr Farben hat. Mein Regenbogen ist grauschwarzbunt. Aber auch das bin ich! 

Manchmal ist meine Welt grau - aber ich weiß, sie wird wieder bunt. Die Farben kommen immer zurück. Irgendwann ...  Solange ich nicht aufhöre, an sie zu glauben. Solange ich nicht aufhöre, am Stamm dieser alten Buche zu lehnen und in den Himmel hinauf zu sehen, die Sterne zu betrachten und den Neumond, der sein schwaches Licht über den Park wirft. 

Achtsamkeit heißt das Stichwort, das habe ich in den letzten Wochen gelernt. Es gibt also einen Begriff dafür. 
Achtsamkeit. 

Mit sich ... und im Außen ... Sich an Kleinigkeiten erfreuen, Dinge wahrnehmen, die nicht jeder sieht, das ist einer der Schlüssel ... 

Ich möchte glücklich sein. 
Ich möchte ICH sein. 

Und das kann ich nur, wenn ich meinem Gegenüber alle meine Seiten zeigen. Denn nur so haben wir beide die Wahl. Bleiben oder gehen? 

Aber das ist nicht immer leicht, für mich nicht und auch nicht für mein Gegenüber. Andererseits - was im Leben ist schon leicht? 
Sind wir es nicht selbst, die uns die Leichtigkeit erschaffen? Ich jedenfalls möchte sie wieder spüren. Ich möchte wieder leicht sein. Und letztlich ist es irrelevant, wie viele Menschen bleiben oder gehen. 
Denn eins ist sicher ...


Sind es die richtigen, bleiben sie auf jeden Fall! 
Dann nehmen sie mich so an, wie ich bin. 

Perfekt unperfekt!