Freitag, den 12.05.2017
Es war in den frühen Morgenstunden, die Sonne versteckte
sich noch hinter dem Horizont, als ein Klopfen an der Tür mich aus dem Schlaf
riss. Müde rollte ich mich aus dem Bett und griff nach einem warmen Sweatshirt.
Mir war klar, was dieses Klopfen zu bedeuten hatte. Auf dem Weg zur Tür
schlüpfte ich in das Shirt, dann öffnete ich.
In der Dunkelheit erkannte ich eine junge Frau, die mich
schweigend anschaute. Über der Schulter trug sie nur eine kleine Tasche.
„Komm rein!“, bat ich sie und schob die Tür einladend ein
Stück weiter auf. Noch immer wortlos trat sie ein.
„Wie heißt du?“, fragte ich freundlich, während ich die Tür
hinter ihr schloss. Sie lächelte mich an. „Sienna. Ich bin hier um …“ Sie brach
ab und musterte mich kurz. „Nein, ich denke, du weißt, warum ich hier bin.“
Ich nickte. „Ja, das weiß ich. Komm mit, ich zeige dir dein
Zimmer.“ Ich ging die Treppe hinauf bis ins Dachgeschoss und Sienna folgte mir.
Diese Art von Besuch war mir nicht unbekannt. Bereits seit
meiner Kindheit kannte ich es nicht anders.
Sie kamen und sie bleiben. Eine gewisse Zeit. Dann
verabschiedeten sie sich – doch niemals gingen sie ganz. Ein Stück von ihnen
blieb in mir – und ein Stück von mir gab ich ihnen mit.
Ein wenig zögernd trat Sienna in das Zimmer unter dem Dach ein,
schaute sich um, und ich tat es ihr gleich.
Auf den ersten Blick wirkte es trist und karg. Ein Bett, ein Schrank,
ein Tisch, ein Stuhl. Keine Gardinen vor dem Fenster, kein Bild an der Wand,
kein Teppich auf dem Holzboden. Doch ich wusste, es machte nichts. Sienna würde
diesen Raum in den nächsten Wochen mit Leben füllen. So war es immer.
Und so würde es auch diesmal sein.
In den nächsten Wochen begleitete Sienna mich. Sie wich mit
nicht von der Seite, egal, was ich tat. Wenn ich aß, saß sie auf dem freien
Stuhl am Esstisch. Sie begleitete mich, wenn ich die Kinder zum Sport fuhr. Auf
der Hunderunde mit der Wauz, ging sie neben mir. Auf der Abschlussfeier meines
Sohnes war sie dabei. Ja, selbst wenn ich schlief, hockte sie auf dem Stuhl
neben meinem Bett. Sogar als ich beim Zahnarzt war, hockte sie neben dem Behandlungsstuhl.
Wir redeten viel.
Nein, Sienna redete.
Ich schwieg, hörte
zu, was sie mir zu erzählen hatte.
Manchmal weckte sie mich mitten in der Nacht oder ließ mich
abends nicht einschlafen.
Manchmal sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Sie
war nicht zu stoppen und sprach so schnell, dass ich kaum hinterher kam.
Manchmal schwieg sie aber auch, starrte stumm vor sich hin
und ich musste ihr jedes Wort aus der Nase ziehen.
Wir lachten zusammen, bis
uns die Bäuche weh taten. Ich weinte mit ihr, als sie mich ihre tiefste Verzweiflung
spüren ließ. Wir waren die besten Freundinnen, sie vertraute mir blind und
zeigte sich mir ohne Mauern, ohne Maske. Jede Emotion, die sie beim Erzählen
durchlebte, spürte ich ebenso stark.
Ab und zu ließ sie mich allein, doch es waren höchstens ein
paar Stunden, in denen sie nicht an meiner Seite war. Dann kehrte sie zurück
und erzählte weiter. Sie gab das Tempo vor und ich folgte. Ließ ihr den Raum
und die Zeit, die sie brauchte.
Jedes Mal, wenn ich in das kleine Zimmer im Dachgeschoss
kam, hatte es sich ein wenig verändert. Stück für Stück. Jeden Tag ein wenig
mehr. Erst war es die bunte Bettwäsche und die Tagesdecke auf dem Bett. Am
nächsten Tag hingen Gardinen vor den Fenstern. Dann stand ein großer Strauß
selbst gepflückter Wildblumen auf dem kargen Tisch. Eine Tischdecke und ein
kuschliger Läufer folgten, ebenso wie hübsche Kerzenständer und kleine Lampen,
die den Raum in ein diffuses Licht tauchten.
Dieses Zimmer unter dem Dach wurde mit jedem Tag ein Stück
mehr zu Siennas Zimmer. Es zeigte, wer sie war, was sie liebte und was sie
brauchte. Es waren Kleinigkeiten und doch veränderte sich der Raum. Aus dem
tristen Dachgeschoss wurde ein gemütliches Zuhause. Es gefiel mir, dass Sienna
sich bei mir so wohlfühlte, doch es machte mich auch ein wenig traurig. Ich
wusste, irgendwann würde unsere Zeit kommen. Unsere Zeit des Abschiednehmens.
Irgendwann an einem Tag Ende Juni war es soweit. In den
letzten Tagen hatten wir fast ununterbrochen zusammengesessen. Ich wusste, wir
gingen auf das Ende zu, während Sienna weiter erzählte. Wie ein Schatten hing
dieses Wissen über uns. Ich war froh und glücklich, dass wir gemeinsam diesen
Weg gegangen waren, dass wir diese Zeit zusammen gehabt hatten, doch ein
kleiner, feiner Schmerz stahl sich zwischendurch auch in mein Herz. Es fiel mir
schwer, sie loszulassen. Doch ich musste es. Es war soweit. Jetzt, wo ich alles
wusste. Unsere Zeit war abgelaufen. Sienna hatte mir ihre Geschichte erzählt. Unser
Ende war gekommen. Meine Freundin würde mich verlassen.
Nun ist das Zimmer unter dem Dach wieder verwaist. Die
Blumen, die Gardinen, der Läufer, alles, was Sienna dem Raum im Laufe der
Wochen gegeben hat, ist wieder verschwunden.
Langsam gehe ich durch das
Dachzimmer, nehme noch einen Hauch ihres Duftes wahr. Bald wird auch dieser
Hauch verschwunden sein, ich weiß es. So ist es immer.
Aber ich weiß auch, irgendwann wird es wieder an meiner Tür
klopfen. Eine junge Frau wird davor stehen, bereit, mir ihre Geschichte zu
erzählen.
Sie wird bei mir einziehen und ein paar Wochen oder Monate
bleiben. Sie wird mein Leben bereichern und ich werde mit ihr lachen und
weinen. Sie wird meine Freundin werden.
Irgendwann wird auch sie mich wieder verlassen und auch von ihr wird ein Teil immer bei mir bleiben. Ich werde sie niemals vergessen, ich werde keine von ihnen jemals vergessen.
Wer ich bin, dass all diese Menschen zu Gast bei mir sind? Dass
sie mir ihre Geschichten erzählen?
Ich bin niemand besonders.
Ich bin nur eine Autorin.
Hat dir diese kleine Geschichte gefallen?
Möchtest du nun lesen, was Sienna mir in den Wochen, in denen sie mich Tag und Nacht begleitete, alles erzählt hat?
Dann schau doch mal hier: